Martin ist Psychotherapeut in Weiterbildung. Er spricht über das Vorurteil, dass Psychotherapeut:innen Gedanken lesen können, dem Praxisschock nach dem Studium – und wie eigene Angststörungen bei der Arbeit mit Klient:innen helfen.
Welches Vorurteil über Psychotherapie würdest Du gerne aus der Welt schaffen?
Das hartnäckigste aus meinem persönlichen Umfeld ist sicher: „Du analysierst mich gerade“ oder „Du kannst meine Gedanken lesen“. Viele stellen sich vor, wir hätten direkten Zugang in den Kopf der Menschen – das stimmt natürlich nicht. Wir können Verhalten und Gedanken analysieren, soweit sie uns gezeigt oder erzählt werden. Aber niemand von uns ist invasiv im Kopf anderer unterwegs – und ehrlich gesagt will ich das auch gar nicht.
Kürzlich gab es einen kontroversen Artikel eines Psychotherapeuten, er meinte unter anderem: «Es gibt nicht zu wenig Therapie, sondern zu viel Ineffizienz». Wie siehst Du das?
Pauschal kann man das nicht sagen. Klar, Kliniken sind grosse Systeme, die stark strukturiert sein müssen – da entstehen zwangsläufig auch Ineffizienzen. Aber das ist kein Vorwurf, sondern in diesen Strukturen notwendig. Einer der Gründe, warum ich zu WePractice gekommen bin, war genau dieser: Hier kann ich meine Termine selbst planen und meine Klientinnen frei wählen. So bleibt mehr Zeit für die eigentliche Therapie.
Wenn Du heute auf Deine Studienzeit zurückblickst – welchen Rat würdest Du dem jungen Psychologiestudenten Martin geben?
Grundsätzlich habe ich diese Zeit sehr genossen, das war eine der schönsten Phasen meines Lebens. Vieles würde ich wieder genauso machen. Aber vielleicht hätte ich mir früher Gedanken darüber gemacht, wie der Job wirklich aussieht. Denn erst nach fünf Jahren Studium hatte ich das erste Mal direkten Kontakt mit Patienten auf einer Akutstation – das war ein Schock. Ich habe miterlebt, wie ein Patient umringt von sechs Polizisten zwangsmediziert wurde. In solchen Momenten merkt man: Das Bild von der YAVIS-Patientin, das man im Studium vermittelt bekommt, stimmt selten.
Du bist auf Angst- und Zwangsstörungen spezialisiert – was hat Dich in der Zusammenarbeit mit Klienten besonders überrascht?
Bei Zwangsstörungen muss man die Zwänge dort behandeln, wo sie entstehen – also meistens bei der Klientin, beim Klienten zu Hause. Für mich war das anfangs eine grosse Schwelle: raus aus dem Büro, rein in die Wohnung des Patienten. Ein eindrückliches Beispiel war eine Frau mit starken Kontaminationsängsten. Ich durfte nichts anfassen, musste meine Schuhe ausziehen und bekam frische Socken von ihr – ein sehr spezielles Gefühl. Ich dokumentiere jeweils mit der Kamera, wo überall Zwänge auftauchen – viele Patientinnen realisieren erst dann, wie umfassend ihre Zwänge wirklich sind.
Hat Dein Beruf Dich auch persönlich verändert?
Auf jeden Fall. Meine Höhenangst habe ich im Studium mit Expositionen Schritt für Schritt überwunden. Das hat mir auch in der Arbeit mit Klienten geholfen, weil ich sagen konnte: „Ich weiss, wie sich das anfühlt, ich war an genau diesem Punkt.“ Das schafft Vertrauen.
Und ich habe gelernt, länger und besser zuzuhören und mit sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten umzugehen. Das hilft auch privat enorm. Meine Partnerinnen haben mir aber auch schon gesagt: „Jetzt stell Dein Therapeutenhirn mal ab.“
Martin wurde in Indonesien geboren und wuchs ab seinem fünften Lebensjahr in der Schweiz auf. Nach dem Psychologiestudium startete er auf einer affektiven Station mit Notfalldiensten in Schaffhausen. Anschliessend arbeitete er mehrere Jahre in einer Klinik in Wil (SG) mit Schwerpunkt auf Angst- und Zwangsstörungen. Derzeit absolviert er die verhaltenstherapeutische Weiterbildung an der Uni Zürich und ist als Psychotherapeut in Weiterbildung bei WePractice tätig.
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