Alina ist Psychotherapeutin. Sie spricht über die “Modediagnose” ADHS, die Bedeutung von Achtsamkeit im Berufsalltag – und gibt Tipps für Psychologie-Student:innen.
Du bist auf ADHS spezialisiert, was aufgrund von TikTok und Co ein bisschen eine Modediagnose geworden ist. Wie erlebst Du das im Berufsalltag?
Ich finde es wichtig und gut, dass heute mehr informiert wird. Es ist ein bisschen so wie bei Depressionen, von denen man gesagt hat, dass es sie heute öfter gibt: Heute gibt es einfach eine grössere Sichtbarkeit. Früher wurden viele Beschwerden körperlich erklärt oder es gab mehr Suizide, weil die Leute nicht wussten, was mit ihnen los ist.
Auf TikTok sehe ich viele Inhalte, die richtig gut sind – fundiert und verständlich erklärt. Das finde ich sehr wertvoll. Natürlich gibt es daneben auch Accounts, die alles verflachen: „Wenn Du dieses und jenes hast, dann ist es ADHS.“ Das ist problematisch. Aber für mich überwiegen die positiven Effekte.
Merkst Du auch, dass Klient:innen zu Dir kommen und sagen: “Ich habe ADHS” – und es dann schwierig ist, ihnen mitzuteilen, dass die Kriterien nicht erfüllt sind?
Ja, das erlebe ich. Bei manchen ist die Enttäuschung spürbar, wenn es eben nicht ADHS ist. Spannend finde ich aber auch die andere Richtung: Menschen, die gar nicht selbst auf die Idee kommen. Wenn ich dann den Verdacht äussere, reagieren sie oft überrascht: „Nein, das passt nicht zu mir, ich bin ja gar nicht hibbelig.“ Dann erkläre ich, dass ADHS viel breiter ist und andere Aspekte dazugehören.
So gibt es beide Seiten: Die, die enttäuscht sind, weil sie es erwartet haben und es nicht zutrifft. Und die, die es nicht erwartet hätten – und dann plötzlich verstehen, warum vieles in ihrem Leben Sinn ergibt.
Was würdest Du jemandem raten, die oder der sich überlegt, Psychotherapeut:in zu werden?
Das Erste, was mir einfällt: So früh wie möglich Erfahrungen sammeln. Am besten ein Praktikum machen – oder mehrere. Im Studium muss man das ohnehin, aber ich würde mich schon frühzeitig darum kümmern. Plätze zu finden ist nicht einfach.
Ich wollte am Anfang mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Also habe ich ein Praktikum gemacht und gemerkt: Ich mag die Arbeit mit den Kindern sehr, aber ich fand es schwierig, sie danach wieder in belastende Verhältnisse zurückgehen zu lassen. Das war für mich nicht das Richtige, auch wenn es eine wertvolle Erfahrung war.
Was würdest Du sagen: Ist Psychotherapeut:in ein Beruf oder eine Berufung?
Beides. Ich bin dankbar, dass ich schon früh wusste, was ich machen will. Der Beruf erfüllt mich, weil ich viel bewegen kann und er für mich Sinn hat – ohne Sinnhaftigkeit könnte ich das nicht.
Gleichzeitig liegt darin auch eine Gefahr: Ich habe Phasen erlebt, in denen ich zu wenig auf mich selbst geschaut habe. Mein Therapeut sagte einmal: „Du kannst keine gute Therapeutin sein, wenn Du langfristig nicht auf Dich achtest.“ Das hat mich getroffen, aber er hatte recht. Kurzfristig geht es vielleicht – längerfristig braucht es genau das. Practice what you preach.
Welchen Rat gibst Du jemandem, die oder der mit dem Gedanken spielt, Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber noch zögert?
Wenn belastende Gedanken immer wiederkehren oder der Leidensdruck zunimmt, lohnt es sich, das mit dem Hausarzt zu besprechen oder einfach ein Erstgespräch zu vereinbaren.
Viele haben die Sorge, verurteilt zu werden – auch, weil Filme oder Serien oft ein falsches Bild zeigen. Da sitzt jemand schweigend, macht Notizen, und es wirkt distanziert. Ich finde es schön, wenn Menschen dann merken, wie anders es sein kann. Einige meiner Klient:innen haben gesagt: “Das ist bei WePractice eine ganz andere Atmosphäre, nicht so steril wie in einem Spital. Hier fühlt man sich wohl und kann angenehme Gespräche führen.” Und allein das macht schon sehr viel aus.
Alina studierte Psychologie in Freiburg und Bern und absolvierte ihre Weiterbildung an der AIM. Nach Stationen bei der Suchthilfe und in einem Ambulatorium arbeitet sie seit knapp einem Jahr als Psychotherapeutin bei WePractice in St. Gallen.
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