David ist Psychotherapeut. Er spricht über Selbstzweifel im Job, TikTok-Diagnosen und den schmerzhaften Weg der Selbsterfahrung.
Zweifelst Du manchmal an Dir und Deinen Fähigkeiten im Job?
Ich glaube ehrlich gesagt, das tut jede:r Psychotherapeut:in. Ich habe manchmal das Gefühl, das ist fast unsere grösste Schwäche – dass wir so stark an uns selbst zweifeln, oft viel mehr, als es nötig wäre.
Zu Deiner Frage: Ja, ich zweifle sehr viel an mir. Es ist heute weniger als früher, aber es gibt immer wieder Situationen oder Klient:innen, die etwas in mir auslösen. Zum Beispiel, wenn jemand schon seit einem Jahr bei mir ist und es keine spürbare Verbesserung gibt, oder wenn jemand plötzlich nicht mehr kommt. Dann fragt man sich schon: Habe ich etwas falsch gemacht?
Ich glaube, viele von uns nehmen solche Dinge sehr persönlich. Es braucht viel Resilienz, um sagen zu können: Das liegt nicht nur an mir, vielleicht hat es einfach nicht gepasst. Ich würde sogar sagen: Das ist eines der zentralsten Themen in unserem Beruf.
Wenn Du einen Wunsch für die Weiterentwicklung in der Psychotherapiebranche hättest – was wäre das?
Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wäre es mehr Aufklärung. Darüber, was Psychotherapie eigentlich ist. Wie sie funktioniert. Und auch, worin sie sich von der Psychiatrie unterscheidet. Ich glaube, das Bild von Psychotherapie – und auch von Psychiatrie – ist in vielen Köpfen noch ziemlich verzerrt. Ich würde mir wünschen, dass das Bild in der Gesellschaft besser gezeichnet ist.
Wie meinst Du besser?
Ich glaube, wir sind grundsätzlich auf einem guten Weg – aber viele Vorurteile sind trotzdem noch da. Ich finde es immer wieder spannend, wie stark sich manche Menschen gegen Therapie wehren – oft geprägt durch falsche Bilder aus den Medien oder durch ältere Generationen, die noch ganz andere Erfahrungen mit Psychiatrie gemacht haben.
Gleichzeitig ist Mental Health heute ein Riesenthema, was schön ist – aber es kippt manchmal ins Extreme: Alles wird pathologisiert. Das schadet der Psychotherapie auch. Psychotherapie ist etwas für Menschen, die wirklich Schwierigkeiten haben. Es ist keine Wellnessbehandlung.
Darum wünsche ich mir: ein besseres Bild – eines, das differenziert ist. Und das zeigt, was Psychotherapie wirklich ist – aber auch, was sie nicht ist.
Du sprichst die Stigmatisierung von psychischer Gesundheit an. Auf Social Media – etwa TikTok – wird Mental Health öffentlich gerade stark thematisiert. Wie siehst Du diese Entwicklung?
Ich finde es ein zweischneidiges Schwert. Es ist toll, dass heute offener über psychische Gesundheit gesprochen wird und dass Therapie als etwas Wertvolles gezeigt wird.
Gleichzeitig sehe ich aber auch die Kehrseite. Psychische Erkrankungen werden auf Social Media teilweise zu einem Trend. Plötzlich ist jede Herausforderung ein Trauma, alles böse ist narzisstisch und wenn man gesund isst, hat man eine Essstörung. Oder man hat ADHS, weil ein Video das suggeriert. Es ist immer gefährlich, wenn psychische Erkrankungen etwas sind, das man haben möchte, damit man dazugehört.
Man muss aufpassen, dass man nicht alles überdiagnostiziert. Ich glaube, gewisse Dinge gehören einfach auch zum Leben. Und sie auszuhalten, gehört zur Entwicklung dazu – ohne dass gleich ein Störungsbild daraus wird.
Du hast mir mal gesagt, dass manche Menschen sich selbst diagnostizieren, um dazuzugehören. Denkst Du, dass das auch ein Weg sein kann, sich aus der Verantwortung zu nehmen? Zum Beispiel: „Ich bin unmotiviert, also habe ich wohl ADHS.“
Ja, das gibt’s definitiv auch. Und da muss man wirklich aufpassen. Eine Diagnose ist wichtig – wenn sie begründet ist. Aber eine Diagnose ist keine Entschuldigung.
Ich finde es problematisch, wenn jemand zum Beispiel sagt: „Ich kann keine gute Beziehung führen, weil ich eine Borderline-Persönlichkeitsstörung habe.“ Das stimmt so nicht. Damit nimmt man sich selbst jede Entwicklungsmöglichkeit – und verfestigt ein Bild, das so gar nicht zwingend stimmen muss.
Oder wenn jemand sagt: „Ich kann das und das nicht, weil ich autistisch bin.“ Vielleicht stimmt das – aber vielleicht ist es auch nur eine Zuschreibung. Es kann auch hilfreich sein, da mal sanft zu challengen. Und wenn etwas tatsächlich nicht geht, ist das auch völlig in Ordnung. Aber das sollte nicht vorschnell über ein Etikett laufen.
Wie erlebst Du diese Herausforderung in Deinem Berufsalltag?
Viele Menschen kommen heute mit einer vorgefertigten Idee zu mir – zum Beispiel, dass sie ADHS haben. Und dann ist es wichtig zu sagen: „Lass uns erst mal gemeinsam hinschauen. Welche Symptome zeigen sich wirklich?“ Vielleicht ist es einfach eine Phase mit erhöhter Erschöpfung oder Konzentrationsschwierigkeiten.
Da nicht sofort einzulenken – nicht direkt mit Diagnostik loszulegen oder zu bestätigen – ist manchmal herausfordernd. Weil sich Menschen dann nicht verstanden fühlen. Viele kommen mit dem Gedanken: „Ich habe ein Video gesehen, da wurden sieben Symptome genannt – fünf habe ich, also habe ich es auch.“
Und genau da zeigt sich die Schwierigkeit mit Social Media: Es bietet einerseits niedrigschwellige Informationen, aber gleichzeitig fördert es auch schnelle Schlussfolgerungen, die nicht immer stimmen. Und manchmal werden dort auch einfach Unwahrheiten verbreitet. Gerade im psychischen Bereich braucht es viel mehr Differenzierung, als ein kurzer Clip oder Post oft leisten kann.
Welche Erkenntnisse über den Job als Psychotherapeut hättest Du gerne schon während Deines Studiums gehabt?
Gute Frage. Ich bin, glaube ich, ziemlich naiv ins Studium gestartet – so im Sinne von: Ich studiere Psychologie und dann bin ich Psychotherapeut. Was ich aber relativ schnell gemerkt habe: Da kommt ja noch eine Weiterbildung. Und zwar nicht mal eben nebenbei – vier Jahre, die auch finanziell eine echte Herausforderung sind. Das ist mir erst gegen Ende des Bachelors wirklich bewusst geworden.
Was ich ebenfalls völlig unterschätzt habe: wie unterschiedlich die Weiterbildungsinstitute sind. Bei manchen geht’s relativ easy, andere stellen deutlich höhere Anforderungen. Mal ist’s eine mündliche Abschlussprüfung, mal schriftlich, mal gar nichts.
Ich hätte mir gewünscht, das früher zu wissen – wobei: Ich hätte mich auch einfach besser informieren können.
Was fordert Dich im Alltag am meisten heraus?
Dass man sich mehrmals am Tag komplett neu auf Menschen einlässt. Jede Sitzung ist anders. Jedes Mal braucht es wieder volle Präsenz, ein neues Einfühlen, neue Geschichten, neue Stimmungen, neue Herausforderungen.
Wenn Du selbst gerade in einer schwierigen Phase bist, kann das, was die andere Person erzählt, etwas in Dir auslösen, dann kann es schwierig werden. Ich merke das zum Beispiel, wenn jemand über die Trennung der Eltern spricht. Meine Eltern sind geschieden, und da muss ich aufpassen, dass ich nicht automatisch meine eigene Geschichte reinprojiziere. Da geht es für mich darum, ganz bewusst offen zu bleiben und genau hinzuhören.
Gibt es etwas, das Du im Job gelernt hast und das heute Deine privaten Beziehungen verbessert?
Ja, definitiv. Ich habe gemerkt, dass man in privaten Beziehungen schnell in den Lösungsmodus geht. Jemand erzählt Dir, dass es ihm oder ihr schlecht geht, und sofort willst Du helfen: „Dann mach doch das und das, dann geht’s Dir wieder besser.“
Aber durch die Therapieausbildung habe ich gelernt: Viele Menschen brauchen gar nicht sofort eine Lösung. Es geht vielmehr darum, erstmal da zu sein. Einfach zuzuhören. Gefühle überhaupt erst einmal zuzulassen. Danach kann man überhaupt erst spüren: Wo stehe ich gerade? Bin ich schon bereit für einen nächsten Schritt? Oder brauche ich einfach nur Raum, um wahrzunehmen, dass es mir gerade nicht gut geht?
Ich glaube, dieser Perspektivenwechsel hat meine privaten Beziehungen verbessert. Ich spüre schneller, wann jemand wirklich Unterstützung braucht, und wann es eher um Dasein geht.
Welche Lektion im Leben hast Du auf die harte Tour lernen müssen?
Ich glaube, das kennen viele, die eine Psychotherapieausbildung machen: Man startet in die Selbsterfahrung und denkt sich – ich weiss gar nicht, was ich erzählen soll. So ging’s mir auch. Ich war da anfangs ziemlich blind für meine eigenen Themen.
Aber dann wurde mir der Spiegel vorgehalten. Ich habe neue Dynamiken erkannt, alte Familienthemen neu gesehen. Ich bin da emotional wirklich zwischen labil und stabil hin- und hergeschwankt. Es gab Erkenntnisse, die wehgetan haben. Und gleichzeitig waren da auch wunderschöne Momente, in denen Dinge klar wurden. Mir ging’s noch nie so schlecht wie in dieser Zeit. Das war eine harte Lektion. Aber sie war auch wichtig.
David hat Psychologie an der Universität Bern studiert und seine Weiterbildung zum Psychotherapeuten an der Universität Zürich absolviert. Heute ist er Co-Leiter und Psychotherapeut bei WePractice.
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